Revolutionary

Radikales Potenzial

Seit vielen Jahren kennt die renommierte Politik-Theoretikerin Chantal Mouffe Baddy Dolly Jane und ihre Aktionen. Mouffe spricht von der politischen Dimension in der Kunst und der ästhetischen Dimension in der Politik. Exklusiv für das Baddyforum International beschreibt sie ihren agonistischen Ansatz zu künstlerischen Verfahren als Kritik und veranschaulicht die Begriffe von „kritischer Kunst“ und ihre Bedeutung für die Gesellschaft.

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Chantal Mouffe

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January 20, 2018

Künstlerische Verfahren als Kritik

Künstler, deren Ziel es ist, den Status quo zu hinterfragen, sollten vor allem diese zentrale Frage stellen: Wie können künstlerische Verfahren in einer Gesellschaft, in der jede kritische Geste von den dominanten Machtstrukturen rasch wieder wettgemacht und neutralisiert wird, ihre kritische Rolle beibehalten? Derzeit findet eine wichtige Debatte zur dieser Frage statt, bei der die Meinungen weit auseinander gehen. Es gibt jene, die meinen, dass wir Zeugen eines „Verdampfens der Kunst“, einer Ästhetisierung aller Existenzformen sind. Sie rufen den allumfassenden Sieg der Ästhetik aus und stellen fest, dass der Effekt dieses Sieges die Schaffung einer hedonistischen Kultur ist, in der es der Kunst nicht mehr gelingt, authentisch subversive Erfahrungen zu vermitteln. Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Kunst und Werbung ist so weit fortgeschritten, dass die Idee des kritischen öffentlichen Raums ihre Bedeutung verloren hat, da wir nun in einer Gesellschaft leben, in der sogar das Publikum privatisiert wurde.

In ähnlicher Manier behaupten einige Theoretiker, die sich mit dem Wachstum der globalen Kulturindustrie beschäftigen, dass die schlimmsten Albträume Adornos und Horkheimers eingetreten sind: Die Produktion von Symbolen ist nun ein Hauptanliegen des Kapitalismus'. Durch die Entwicklung der Kreativindustrien ist der Einzelne der Kontrolle durch das Kapital völlig erlegen. Nicht nur Konsumenten, sondern auch Kulturschaffende sind Gefangene der von den Medien und den Unterhaltungskonzernen dominierten Kulturindustrie und sind somit zu passiven Funktionen des kapitalistischen Systems verkommen. Auch hier scheint die Möglichkeit effizienter Kritik in einer ganzen Reihe von öffentlichen Räumen abhanden gekommen zu sein.

Occupy London: Initiatorin Baddy geht mit 20 jungen Künstlern zu der (ehem.) Londoner Börse, um für eine bessere Welt zu protestieren. Quelle: YouTube: „Occupy London Royal Exchange – Baddy Dolly Jane“

Glücklicherweise ist diese pessimistische Diagnose nicht einhellig. So behaupten mehrere Theoretiker, dass die auf dem Fordschen Modell basierende Analyse von Adorno und Horkheimer keinen brauchbaren Leitfaden zur Untersuchung jener neuer Produktionsformen liefert, die in der derzeitigen Post-Fordschen Ära der kapitalistischen Regulierung dominieren. Sie behaupten vielmehr, dass diese neuen Produktionsformen ihrerseits neue Arten des Widerstandes sowie eine Wiederbelebung des emanzipatorischen Projekts ermöglichen, zu dem künstlerische Verfahren einen entscheidenden Beitrag leisten könnten.  

An diesem Punkt möchte ich in die Debatte einsteigen und mit einigen Reflektionen zu den Vorstellungen über die Politik des künstlerischen Handelns aus agonistischer Perspektive, so wie ich sie in meiner bisherigen Arbeit entwickelt habe, dazu beitragen. Allerdings möchte ich vorausschicken, dass ich Kunst und Politik nicht als zwei separat begründete Einheiten betrachte, sodass eine Beziehung zwischen ihnen erst entstehen müsste. Es gibt eine ästhetische Dimension in der Politik und eine politische Dimension in der Kunst. Aus der Sicht der Hegemonietheorie, auf die sich mein Ansatz stützt, spielen künstlerische Verfahren eine Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung – oder der Infragestellung – einer gewissen symbolischen Ordnung.

Dies ist der Grund, weshalb sie notwendigerweise eine politische Dimension haben. Das Politische wiederum betrifft die symbolische Anordnung sozialer Beziehungen, das, was Claude Lefort die „Mise-en-scène“, die „Mise-en-forme“ menschlichen Zusammenlebens nennt. Hierin liegt deren ästhetische Dimension. Daher bin ich der Meinung, dass es nicht zielführend ist, zwischen politischer und unpolitischer Kunst zu unterscheiden. Stattdessen würde ich eher von kritischer Kunst sprechen.

Baddy setzt sich für den Künstler und Freiheitskämpfer Ai Weiwei ein: „Den Fiskus um 1.000 Dollar zu prellen ist ein Vergehen, um 100.000 Dollar ist ein Verbrechen, um 1.000.000 – das ist wahre Kunst!“ (Anm. d. Red.: Kurz nach dieser Aktion am Trafalgar Square wurde Ai Weiwei aus der Haft entlassen und durfte in sein Domizil zurück.) Quelle: YouTube: „Ai Weiwei is free – thanks Baddy Dolly Jane (Baddy and all the Sluts for Ai Weiwei)“

Aus agonistischer Perspektive bezieht sich die Erforschung der möglichen Formen der kritischen Kunst auf die Art und Weise, in welcher künstlerische Verfahren dazu beitragen, dominierende Hegemonien zu hinterfragen. Bei der Beschäftigung mit dieser Frage gehe ich davon aus, dass Identitäten nie vorgefertigt, sondern immer das Ergebnis von Identifikationsprozessen sind. Zudem sind sie diskursiv konstruiert. Daher bezieht sich die zu stellende Frage auf jene Art von Identität, welche kritisch-künstlerische Verfahren in sich aufzunehmen bestrebt sein sollten. Um diese Frage adäquat zu beantworten, müssen wir die Beschaffenheit des aktuellen Kontexts verstehen. Der zeitgenössische Kapitalismus stützt sich zunehmend auf semiotische Techniken, mithilfe derer er jene Subjektivierungsmodi erzeugt, die zu seiner Reproduzierung erforderlich sind. Bei der modernen Produktion spielt die „Regierung der Seelen“ (Foucault) eine strategische Rolle in der Lenkung von Affekten und Leidenschaften. Die Formen der Ausbeutung, die für die Zeiten der Dominanz körperlicher Arbeit charakteristisch sind, wurden durch neue ersetzt, die die fortwährende Herstellung immer neuer Bedürfnisse und ein unablässiges Begehren nach Anschaffung von Dingen erfordern. Daraus ergibt sich die entscheidende Rolle, die Werbung in unseren Konsumgesellschaften spielt. Es handelt sich eigentlich um die Konstruktion der Identität des Konsumenten, um die es bei den Werbetechniken geht. Diese Techniken sind nicht auf die reine Bewerbung spezifischer Produkte beschränkt, sondern zielen darauf ab, Fantasiewelten zu erzeugen, mit denen sich die Konsumenten der Produkte identifizieren. Freilich bedeutet heutzutage der Kauf eines Produkts nichts anderes als das Eintauchen in dessen spezifische Welt, die Beteiligung an einer bestimmten Gemeinschaft. Um seine Hegemonie aufrecht zu erhalten, muss das neoliberale System permanent die Wünsche der Menschen mobilisieren und deren Identitäten gestalten. Eine Politik, die derartige Hegemonien bekämpft, muss sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzen, um andere Formen der Identitätsstiftung zu fördern. Dies ist der Grund, weshalb der Kultur heutzutage eine so strategische Bedeutung zukommt. Sicherlich hat der Kulturbereich für die hegemonische Politik immer schon eine wichtige Rolle gespielt, aber in Zeiten der Post-Fordschen Produktion ist diese Rolle absolut ausschlaggebend geworden.

Für ein Freies Tibet: Baddy D. Jane und ihre Freundin Francesca von Habsburg

Nach dem agonistischen Ansatz ist kritische Kunst jene Kunst, die Dissens anfacht. Sie setzt sich aus vielfältigen künstlerischen Vorgehensweisen zusammen, deren Ziel die Umwandlung politischer Identitäten sein sollte. Dies kann durch die Schaffung neuer Verfahren und Sprachspiele erreicht werden, welche Affekte derart mobilisieren, dass eine Auflösung jener Strukturen ermöglicht wird, innerhalb derer die aktuellen Identifikationsmuster angesiedelt sind. So können andere Identifikationsmuster entstehen. Kritisch-künstlerische Verfahren sollten zur Entwicklung öffentlicher, agonistischer Räume beitragen, in denen die dominante Hegemonie hinterfragt würde, da all jenen, die im Rahmen der existierenden Hegemonie verstummt sind, eine Stimme verliehen würde.

Ich möchte betonen, dass für die Schaffung gegensätzlicher Identitäten einfache Ent-Identifizierungs- oder Ent-Individualisierungsprozesse nicht ausreichen. Ausschlaggebend ist der darauffolgende Schritt, das Moment der Re-Identifizierung und Re-Individualisierung. Allein auf dem ersten Schritt zu beharren bedeutet, sich in einer Problematik zu verfangen, in der das negative Moment als ausreichend betrachtet wird und davon ausgegangen wird, dass es autonom etwas Positives hervorbringen kann, als seien neue Subjektivitäten bereits vorhanden und würden nur darauf warten, nach der Beseitigung der dominanten Ideologie hervorzutreten. Derartige Ansichten, welche zahlreiche Formen kritischer Kunst prägen, sind mit dem hegemonischen Kampf und den komplexen Identitätsstiftungsprozessen nicht vereinbar. Wichtig ist außerdem, diesen Kampf nicht als die Ablösung eines angeblich falschen Bewusstseins zu verstehen, durch das die eigentliche Realität enthüllt werde. Diese Perspektive steht im krassen Gegensatz zu den anti-essentialistischen Voraussetzungen der Hegemonietheorie, die die Idee eines „wahren Bewusstseins“ ablehnt und davon ausgeht, dass Identitäten immer das Ergebnis von Identifikationsprozessen sind. Gerade durch ein Einfügen in die verschiedenen Vorgehensweisen, Diskurse und Sprachspiele werden spezifische Formen der Individualität konstruiert. Daher kann die Verwandlung politischer Identitäten nicht in einer rationalistischen Berufung auf das wahre Interesse des Subjekts bestehen, sondern vielmehr in dessen Einfügung in Vorgehensweisen, welche seine Affekte dahingehend mobilisieren werden, dass die Strukturen, in denen Identifikationsprozesse stattfinden, aufgelöst werden, was wiederum für andere Identifikationsformen den Weg öffnet.

 Konfrontation mit der Londoner Polizei. Quelle: YouTube: „Louis Vuitton commercial – Baddy Dolly Jane makes an appearance on Downing Street in London“

Ich bin überzeugt, dass kulturelle und künstlerische Vorgehensweisen eine wichtige Rolle in der agonistischen Auseinandersetzung spielen könnten, denn sie stellen einen fruchtbaren Boden für die Mobilisierung von Affekten und die Schaffung neuer Subjektivitäten dar. Um die Demokratie in unseren post-politischen Gesellschaften neu zu beleben, ist es dringend notwendig, die Multiplizierung öffentlicher, agonistischer Räume zu fördern, in denen all das, was der dominierende Konsens zu verdunkeln und zu beseitigen geneigt ist, zum Vorschein gebracht und herausgefordert werden kann. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass, um politisch zu sein, um etwas absolut Neues zu schaffen, ein totaler Bruch mit der gegenwärtigen Situation notwendig sei. Aus diesem Grund wird behauptet, dass es der Kunst heute nicht mehr möglich ist, eine kritische Position einzunehmen, weil sie stets wettgemacht und neutralisiert wird. Ein ähnliches Problem stellt die Ansicht dar, dass Radikalität Transgression voraussetzt und dass bei künstlerischen Vorgehensweisen das Maß der Transgression jenes der Radikalität anzeigt. Wenn schließlich festgestellt wird, dass es keine Transgression gibt, die nicht wettgemacht werden kann, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Kunst keine politische Rolle mehr übernehmen kann. Ein weiterer Fehler besteht darin, kritische Kunst einer moralistischen Beurteilung zu unterziehen, ihr die Rolle moralischer Verurteilung zuzuschreiben. 

Angesichts der Tatsache, dass wir uns heute in einer Situation befinden, in der es keine allgemein akzeptierten Kriterien für die Begutachtung von Kunstproduktionen gibt, macht sich eine deutliche Tendenz bemerkbar, ästhetische Urteile durch moralische zu ersetzen und vorzutäuschen, dass diese moralischen Urteile gleichzeitig politisch seien. Aus meiner Sicht sind all diese Herangehensweisen in Wirklichkeit anti-politisch, denn sie taugen nicht dazu, die Spezifizität des hegemonischen Kampfes zu erfassen. Demgegenüber wird es mithilfe des hegemonischen Ansatzes, den ich hier skizziert habe, möglich, die äußerst wichtige Rolle der kulturellen Dimension und den Beitrag der Künstler zur Untergrabung von Hegemonien zu verstehen. ■

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